Von Entstigmatisierung und Therapieplatzsuche

Von Entstigmatisierung und Therapieplatzsuche

Franca Cerutti im Interview mit egoFM Sebastian

Seit der Corona-Pandemie ist die Suche nach einem Therapieplatz noch schwerer geworden. Wie du einen finden kannst und ob Social Media bei der Entstigmatisierung von psychischen Krankheiten hilft, weiß Franca Cerutti.

Seit über zehn Jahren hat Diplompsychologin und Psychotherapeutin Franca Cerutti ihre psychotherapeutische Praxis. 2018 hat sie dann auch ihren eigenen Podcast Psychologie to go! gestartet, in dem sie ihr Wissen über psychologische Themen weitergibt und damit auch einen Beitrag zur Entstigmatisierung von psychischen Krankheiten leisten will. Im Interview erzählt sie, was sie von Onlinetherapie hält und was Angehörige von Betroffenen sowohl für sie, als auch für sich selbst tun sollten.
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Foto: Franca Cerutti


Onlinetherapie als Alternative?

Mehr als die Hälfte der Studierenden in Deutschland und Österreich bewertet ihre momentane psychische Gesundheit als nicht gut oder schlecht. Das zeigt eine aktuelle Studie von Studo, einer Service App für Studierende. Eine Möglichkeit, die während der Pandemie stärker wahrgenommen wird, ist die Onlinetherapie. Du sitzt vor deinem Laptop in deinen eigenen vier Wänden und dir gegenüber auf dem Bildschirm ein*e Therapeut*in. Anfangs war Psychotherapeutin Franca Cerutti da ziemlich skeptisch. Mittlerweile hat sie aber erkannt, dass es für viele Menschen mehr als nur die zweite Wahl ist. Es sei die optimale Möglichkeit, überhaupt erstmal in Kontakt mit Therapie zu kommen, vor allem wenn Betroffene dezentral leben, weniger Zeit haben, weil sie sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern müssen oder aufgrund einer schweren Sozialphobie Probleme damit haben, aus dem Haus zu kommen. Außerdem, meint Franca, hätten viele Patient*innen das Gefühl, in ihrem eigenen Zuhause den Prozess stärker steuern zu können. Im schlimmsten Fall, wenn der oder die Therapeut*in gar nicht taugt, könne man ja immer noch den Laptop zuklappen.  



Entstigmatisiert Social Media?

Neben der Onlinetherapie finden psychische Krankheiten mittlerweile aber auch Raum in sozialen Medien. Auf Instagram gibt es viele Accounts, die über Depressionen oder Angsttörungen aufklären und auf TikTok berichten Betroffene unter Hashtags wie #MentalHealth #Anxiety von ihrem täglichen Struggle. Grundsätzlich findet Franca die gewachsene Wahrnehmung gut. Auch in der Öffentlichkeit werde das Thema mittlerweile anders und viel offener thematisiert als noch vor ein paar Jahren. Allerdings warnt sie auch vor Inhalten, die sich Dinge wie "Good vibes only" auf die Fahne, beziehungsweise in die Instagram-Bio schreiben. Toxische Positivität lautet hier das Stichwort. Wenn jemand "Tipps" postet wie Sport, lüften oder die Ernährung umstellen und quasi verspricht, dass man seine Depression damit heilt, sei das Quatsch. Franca rät, am besten immer achtsam zu bleiben und sich auch fragen, wer was mit welchem (finanziellen) Interesse veröffentlicht und lieber zwei Mal hinzuschauen, wenn jemand Heilsversprechen macht.


Stigmata im Beamtenbereich

Auch wenn die Entstigmatisierung auf Social Media und in der Öffentlichkeit bereits stattfindet, gibt es im Beamtenbereich (z.B. Lehrende, Feuerwehrleute oder Polizist*innen) trotzdem noch viele Stigmata. Bei Behörden seien zum Beispiel oft die Diagnosen einsehbar, weshalb viele deshalb gar nicht erst eine Therapie beginnen.
"Vor allem im Beamtenbereich ist es extrem schwierig, offen psychische Erkrankungen zu thematisieren, weil es einen schlicht und einfach den nächsten Karriereschritt kosten kann […] Das sind Berufsgruppen, die haben belastende Situationen in ihrem Beruf zu bewältigen […] und dennoch gelten die auch untereinander als die ganz harten Typen und Frauen, die das alles so locker wegstecken […] gerade da müsste man mehr psychische Angebote machen." – Franca Cerutti



Knappheit der Therapieplätze

Wenn man sich dann aber doch für eine Therapie entscheidet, ist das Problem, überhaupt erstmal einen freien Platz zu finden. Genug Therapeut*innen gibt es laut Franca zwar. Das große Hindernis ist die Anzahl, die die kassenärztliche Vereinigung festlegt. Pro 100.000 Einwohner*innen bestimmt sie, wie viele Ärzt*innen, also auch Psychotherapeut*innen es in einer Region braucht. Diese Abschätzung sind aber spätestens seit Corona nicht mehr zeitgemäß, denn die Anfragen in Praxen haben sich seitdem um mindestens 40 Prozent erhöht. Von offizieller Seite gibt es zwar eine Terminservicestelle, die man zum Beispiel unter der 116 117 erreicht und dort ein Erstgespräch zur diagnostischen Abklärung bei Psychotherapeut*innen ausmachen kann. Franca sagt aber, die sei ziemlich überlaufen.

In ihrem Podcast und auf ihrem Instagram Profil gibt sie deshalb immer wieder mal Tipps für die Suche. Über einige hat sie auch im Interview gesprochen. Wir haben sie dir hier zusammengefasst:

Tipps zur Therapieplatzsuche

Krankenkasse fragen

Die eigene Krankenkasse sollte immer die erste Anlaufstelle sein. Viele sehen die Not ihrer Versicherten und haben Exklusivverträge mit Psychotherapeut*innen in der Umgebung abgeschlossen oder zumindest Listen mit Praxen in deiner Nähe, die sie dir geben können.

Organisatorische Hilfe und Anrufbeantworter

Falls es dir schwerfällt, Therapeut*innen abzutelefonieren und den benötigten Papierkram zu erledigen, frag jemanden in deiner persönlichen Umgebung, ob er*sie dir dabei helfen kann. Falls du nicht persönlich telefonieren willst, kannst du abends/nachts versuchen, auf die Anrufbeantworter der Praxen zu sprechen und darin bitten, dich auf die Warteliste zu setzen.

Onlineangebote

Wie schon erwähnt, gibt es auch Onlinetherapie. Einige Krankenkassen bieten auch bezahlte Apps an, die Einzelgespräche mit Therapeut*innen beinhalte oder wöchentliche Telefonkontakte.

Gruppenpsychotherapie

Überlege dir, ob du dir eine Gruppentherapie vorstellen könntest. Franca sagt dazu:
"Die Studienlage sagt ganz klar, dass Gruppentherapie häufig mindestens genauso effektiv ist, wie Einzeltherapie und für manche Fälle sogar noch hilfreicher."– Franca Cerutti

Klar ist auch: Ein*e Therapeut*in, die gleichzeitig mit mehreren Menschen arbeitet, kann im Endeffekt mehr Patient*innen helfen, als wenn sie sie nacheinander behandeln würde. Eine Liste mit Gruppentherapeut*innen findest du hier.

Notfall

Ganz wichtig: Wenn du akut Hilfe brauchst, kannst du dich an den ärztlichen Bereitschaftsdienst unter der 116 117 wenden. Weitere professionelle Hilfestellen findest du hier.  Falls deine Gesundheit in Gefahr ist, wähle bitte den Notruf unter der 112.


Wichtig ist auf jeden Fall, immer auf dein Bauchgefühl zu hören und dir Hilfe zu holen.

"Es ist bei weitem nicht so, dass etwas, was von alleine kommt, auch wieder von alleine verschwindet. Schön wärs, aber so ist das halt im Hinblick auf psychische Erkrankungen gar nicht." – Franca Cerutti

Mehr Tipps hat Franca in ihrem Guide zusammengefasst. 




Angehörige von Betroffenen

Jeder dritte Mensch in Deutschland hat in seinem Leben mal eine Phase mit "klinisch relevanten Symptomen", die eine psychotherapeutische Behandlung rechtfertigen würden. Mit diesen Menschen geht auch immer eine Anzahl an Angehörigen, Partner*innen, Freund*innen einher, die die psychische Krankheit ihrer Liebsten ebenfalls belastet. Auch da rät Franca, sich Stärkung und Unterstützung zu suchen.
"Es gibt auch Angehörigengruppen, die Rückhalt und Stärkung und Informationen bereithalten […] Damit man da nicht in den Strudel mit hineingezogen wird, sondern auch schafft, gut auf sich selbst aufzupassen." – Franca Cerutti

Und wenn du merkst, jemandem in deinem Umfeld geht es nicht gut, bittet sie auch, keine Angst davor haben, man würde sich in das Leben dieser Person einmischen.
"Seine Sorge zum Ausdruck zu bringen […] das find ich gar nicht einmischend. Das kann auch ein gutes Signal sein. Manchmal haben die Betroffenen das selbst noch gar nicht gemerkt […] und da hilft so ein Feedback von außen manchmal ungemein weiter." – Franca Cerutti




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