Regierungskrise in Großbritannien

Regierungskrise in Großbritannien

Das komplette Interview aus egoFM Reflex mit Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

Von  Gloria Grünwald (Interview) | Miriam Fischer (Artikel)
Nach den vergangenen Wochen ist vom Wahlslogan "In Liz We Truss" nicht viel übrig geblieben. Schließlich hat die britische Premierministerin gestern Nachmittag ihren Rücktritt bekanntgegeben.

Daniel Zylbersztajn-Lewandowski ist Journalist, lebt seit 1991 in Großbritannien und berichtet von dort als Korrespondent unter anderem für die taz. Im Interview mit egoFM Gloria ordnet er die britische Regierungskrise ein und erklärt, wie es zum Rücktritt von Truss kam.
  • Daniel Zylbersztajn-Lewandowski über die Regierungskrise in Großbritannien
    Das komplette Interview aus egoFM Reflex


Liz Truss war gerade einmal 45 Tage im Amt

Der Minihaushaltsplan, den die Nachfolgerin von Boris Johnson vor rund zwei Wochen zur Entlastung der Wirtschaft angekündigt hatte, sah trotz der sowieso schon hohen Staatsverschuldung neue Steuersenkungen - vor allem auch zur Entlastung der Wohlhabenderen - vor, um Wirtschaftswachstum zu generieren. Das Stichwort hier heißt Trickle-down-Ökonomie.


Die Trickle-down-Ökonomie beschreibt ein wirtschaftliches Konzept, nach dem der Wohlstand der Reichsten durch Konsum und Investitionen nach und nach zu den ärmeren Menschen durchsickert und langfristig zu Wirtschaftswachstum führt.


Ein konkreter Plan, von welchem Geld diese Maßnahmen finanziert werden sollten, war allerdings nicht sichergestellt. In der Theorie sollte wirtschaftlicher Wachstum das zwar auffangen, erste Reaktionen an den Finanzmärkten zeigten sich aber zum Beispiel darin, dass Zinsen auf Immobilienkredite massiv angestiegen sind und der Pfund deutlich abgerutscht ist. Es gab ein riesiges Chaos an den Finanzmärkten und die Inflation ist im Endeffekt nun so hoch wie seit 40 Jahren nicht mehr. Das Vertrauen in Liz Truss als Premierministerin ist nach all dem verschwunden, weswegen sie auch ihren Rücktritt bekanntgab. 

Eine Reaktion auf den Brexit

Daniel Zylbersztajn-Lewandowski erklärt, dass Truss mit ihrem Vorgehen Großbritannien quasi als Versuchszone genutzt hat. Denn eigentlich gibt es ein Office for Budget Responsibility, das dafür da ist, eine unabhängige Einschätzung abzugeben, ob politische Entscheidungen wirtschaftlich gesehen überhaupt zu verantworten sind, um ein solches Chaos zu verhindern. Als Truss den Minihaushaltsplan veröffentlicht hat, fehlte allerdings genau eine solche Einschätzung.

"Und wahrscheinlich fehlte das [die unabhängige Einschätzung des Office for Budget Responsibility] absichtlich, weil die wahrscheinlich prognostiziert haben, dass das Unsinn ist." - Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

Er räumt allerdings ein, dass es grundsätzlich erstmal verständlich ist, Maßnahmen ergreifen zu wollen, um Großbritannien nach dem Brexit für internationale Unternehmen wirtschaftlich attraktiver zu machen. Denn das Austreten aus der EU hat das Land in eine Lage gebracht, in der zumindest Aspekte einer wirtschaftlichen Liberalisierung durchgeführt werden müssen. Das Vorgehen von Truss kritisiert Daniel Zylbersztajn-Lewandowski dennoch scharf.

"Was bei Truss wichtig ist zu verstehen, dass eine liberalere - in Anführungsstrichen - Wirtschaftspolitik, die den Unternehmen praktisch einen Anreiz gibt, nach Großbritannien zu kommen, ist nicht das Verkehrte für ein Brexit-affektiertes Großbritannien, nur der Zeitpunkt war vollkommen falsch." - Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

Denn der Minihaushaltsplan kam zu einem Zeitpunkt, an dem Menschen bereits unter den Folgen der Pandemie und des Ukrainekriegs gelitten haben. Wenn zu einem solchen Punkt überhaupt eine wirtschaftliche Liberalisierung stattfinden kann, dann nur viel langsamer, mit wesentlich weniger Maßnahmen auf einmal, erklärt der UK-Korrespondent. 

Wie geht's jetzt weiter?

Die Erleichterung nach dem Rücktritt von Liz Truss ist groß, die Lage aber insgesamt noch immer sehr ernst und die Verzweiflung vieler Bürger*innen groß. Sie haben neben der Inflation unter anderem auch mit hohen Energiepreisen und gestiegenen Hypotheken zu kämpfen, außerdem steht die Frage im Raum, wer nun der*die nächste Premierminister*in wird. 


Einen kurzen Überblick über die vergangenen Premierminister*innen - und warum diese zurückgetreten sind - findest du hier in unserem egoFM Reflexikon.


Die Tories-Partei hat im Moment immer wieder mit internen Streitigkeiten zwischen den zwei starken Parteiflügeln zu kämpfen. Dass ausgerechnet Boris Johnson wieder eine der Personen ist, die nun im Rennen für die Wahl des Premierminister*innen-Postens ist, befeuert das zusätzlich. Die Opposition, also die Labour Party, profitiert von diesen Streitigkeiten bereits. Wer die Nachfolge von Liz Truss wird, soll bis Ende des Monats feststehen.

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Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

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