Wo ist die Konzert-Etikette hin?

Wo ist die Konzert-Etikette hin?

Meinung: Mehr Respekt für alle

Von  Sabrina Luttenberger
Warum werfen Fans gerade sämtliche Gegenstände auf die Bühne? Haben wir verlernt, wie wir uns auf Konzerten benehmen?


Käse, Vibrator, Armband, Handy, die Asche der verstorbenen Mutter...

Zugegeben: Auf den ersten Blick eine sehr wirre Aufzählung an Gegenständen. Wenn du auf Social Media unterwegs bist und das ein oder andere Konzertvideo angesehen hast, weißt du aber bestimmt, dass sie eines gemeinsam haben: Fans werfen sie ihren Lieblingskünstler*innen auf die Bühne oder – noch schlimmer – ins Gesicht. Gefühlt vergeht gerade kaum ein Konzert, ohne dass danach die Schlagzeile lautet: Künstler*in X wird von Gegenstand Y getroffen.

Momentan scheint es DER Trend schlechthin zu sein, möglichst absurde Gegenstände auf die Bühne zu befördern.

Hauptsache Aufmerksamkeit, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Verluste: Bebe Rexha muss ihr Konzert abbrechen, weil sie mit einer Platzwunde ins Krankenhaus kommt, nachdem das Handy eines Fans sie im Gesicht trifft. Dieser beteuert übrigens danach, er dachte, es sei Trend und habe es aus Jux und Tollerei nach oben geschmissen. Selbst ein kleines Armband hat es in sich: Es geht Harry Styles bei seinem Konzert in Wien – wortwörtlich – ins Auge. Oder Pink, die – verständlicherweise – sehr irritiert ist, nachdem ein Fan die Asche der verstorbenen Mutter auf die Bühne kippt. "Is this your Mom?", fragt sie. "I don't know how to feel about this!" Ich auch nicht genau, ehrlich gesagt. Ich weiß nur, dass ich es respektlos und grenzüberschreitend finde, Menschen auf der Bühne zu bewerfen.



Klar, dass Fans Dinge auf die Bühne schmeißen, ist nicht neu.

Schon die Beatles wurden mit BHs, Blumen oder Zuckerbonbons bombardiert, nachdem George Harrison sie mal als seinen Lieblingssnack bezeichnet hat. Und auch bei Konzerten von Queen musste Freddie Mercury regelmäßig Hüte, Blumen oder sonstiges zurück ins Publikum katapultieren. Laut Erzählungen von Fans ist Gitarrist Brian May sogar mal auf einem Ei ausgerutscht, das auf der Bühne landete. Aber nur weil es immer schon so war, ist es nicht gleich okay oder "normal". Vor allem, wenn es die Musiker*innen bei ihrer Arbeit behindert, sie verletzt und sie im schlimmsten Fall ihr Konzert abbrechen müssen. Mal ehrlich: Wie fändest du es, wenn dich Leute bei deiner Arbeit einfach so abwerfen würden? Du machst nur deinen Job und plötzlich landet… ein Apfel in deinem Gesicht. Jetzt gibt es bestimmt einige die sagen: "Tja, damit muss man als Künstler*in halt rechnen". Oder: "Die Fans meinen es ja nicht böse, die wollen ihre Idole nur beschenken". Erstens: Muss man wirklich? Zweitens: Mag sein. Aber ohne Einverständnis einfach so drauflos werfen ist weder respektvoll noch eine gute Geschenkidee.

Für Fans muss es immer noch Grenzen geben.

Ja, wir leben in Zeiten von Social Media, wo manche Künstler*innen so viel von ihrem Leben teilen, dass wir denken könnten, wir seien mit ihnen befreundet. Parasoziale Beziehungen und so! Aber kurzer Reality Check: Erstens sehen wir nur einen Bruchteil und zweitens, selbst wenn. Es bedeutet nicht, dass uns als Fans deshalb sämtliche Rechte zustehen. Aber Social Media könnte noch aus einem anderen Grund der Auslöser für unangemessenes Verhalten sein.

Der Wunsch nach einem viralen Video

Ich will selbst überhaupt nicht abstreiten, dass ich manche Konzertmomente gerne auf Kamera festhalte. Darüber, wie viel oder wie wenig man jetzt bei Konzerten filmen sollte, kann man bestimmt auch diskutieren. Aber selten war mein Feed so voll von Konzertvideos, in denen vermeintlich alle Interaktionen aus jedem erdenklichen Winkel mit den Künstler*innen festgehalten wurden. Dazu gehören eben auch die spektakulären Weitwurf-Skills der Fans. Auf TikTok reicht es schon, wenn eins deiner Videos viral geht und du hast die Chance, dadurch neue Follower*innen abzugreifen. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, der Wunsch nach einem viralen Video ist bei einigen Fans größer als die Freude, ihre Lieblingskünstler*innen tatsächlich live zu sehen. Für was bist du denn jetzt bei diesem Konzert: für dich oder für Instagram-Content? Für Erinnerungen oder für Likes und Bewunderung?

Gerade bei Konzerten, bei denen der Ticketkauf komplizierter ist als Mathe-Abi, Steuererklärung und praktische Fahrprüfung zusammen – Grüße gehen raus an Taylor Swift – sollten wir doch dankbar sein, dass wir überhaupt dabei sein können.

Und ja klar ist es schön, wenn dir die Person, die dir mit ihrer Musik so viel gibt, kurz Aufmerksamkeit schenkt. Aber vielleicht sollten wir uns eher dreimal überlegen, wie oder ob wir diese Aufmerksamkeit auf uns ziehen wollen. Denn zusätzlich zum Wurfwettbewerb greifen Fans dafür noch zu ganz anderen Methoden. Und das bringt mich zum nächsten Punkt der Konzert-Etikette: Plakate. Ja, ich wiederhole mich: auch das ist nichts Neues. Und vielleicht sagst du jetzt: "Das tut den Künstler*innen selbst ja nicht weh". Naja, es sei denn, es stehen grenzüberschreitende Dinge darauf. Wann haben Fans angefangen, zu glauben, dass Sprüche wie "My dad is dead but my daddy is on stage" (gesehen bei einem Harry Styles Konzert) angemessene Sprüche auf Plakaten sind? Das ist alles andere als das "sign of the times"! Mal abgesehen davon: Egal was draufsteht, den Konzertbesucher*innen dahinter versperrt es die Sicht.


Woran liegt die schwindende Konzert-Etikette?

Insgesamt habe ich das Gefühl, dass generell der Respekt bei Konzerten – ob gegenüber den Künstler*innen oder dem restlichen Publikum – verblasst. Ich weiß nicht, woran es genau liegt. Es ist wahrscheinlich eine Mischung aus Social Media und drei Jahren Coronapause, die man versucht, durch möglichst einschneidende Konzerterlebnisse aufzuholen. Und versteh mich nicht falsch, es gibt genug Konzerte mit respektvollen Fans. Es gibt genug Menschen, die der Vorband zuhören, die nicht kreischen, wenn Künstler*innen gerade etwas erzählen wollen, die nicht meterhoch über den Köpfen filmen, die nicht die Sicht mit Plakaten blockieren oder Musiker*innen mit einer Zielscheibe verwechseln. Aber die, die es eben doch machen, brauchen sich dann auch nicht wundern, wenn der Abstand zwischen Bühne und Fans plötzlich größer wird oder beschweren, dass ihr Idol ja nicht mehr so viel mit Fans interagiert wie früher.

Vermiest den Leuten nicht ihr Konzerterlebnis!

Ich liebe Konzerte! Konzerte sind mein happy place. Konzerte sind der Serotonin-Kick schlechthin. Konzerte sind die Tage, auf die ich mich teilweise ein Jahr lang freue, ihnen entgegenfiebere und danach tagelang noch in Erinnerungen schwelge, anstatt in die Realität zurückzukehren. Konzerte haben einfach was Magisches an sich, wie auch Sängerin Mitski mal auf Twitter geschrieben hat:
"I love shows for the feeling of connection, of sharing a dream, and remembering that we have a brief miraculous moment of being alive at the same time, before we part ways. I feel I’m part of something bigger." – Mitski

Ich will allerdings keine Erinnerungen daran, wie ich dank Plakaten nichts gesehen habe, von drängelnden Fans herumgeschubst wurde oder daran, wie mein Lieblingssänger bei der Zugabe dann doch noch ein blaues Auge bekommen hat. Ich will an meine liebsten Livemomente denken können. Daran, wie ich unter Tränen einfach nur dastehe und merke, wie viel mir dieser eine Song bedeutet oder daran, wie ich schweißgebadet wild herumtanze und nicht fassen kann, dass ich diese eine Band endlich live sehe.

Eigentlich ist es doch ganz einfach. Wenn wir uns alle auf das Wort "Respekt" einigen könnten. Und Käse und Vibrator dann vielleicht doch lieber daheim lassen.



Was gehört für dich zur Konzert-Etikette? Und was geht gar nicht bei Konzerten? 

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