Keine*r ist charakterlos

Keine*r ist charakterlos

Jule Specht über Identitätsfindung, -entwicklung und -krisen

Der Name in deinem Pass und dein Fingerabdruck. Deine Nationalität und deine Eltern. Die Erfahrungen, die du gemacht hast und die DNA, die du in dir trägst. All das bestimmt ein Stück weit deine Identität.

Jule Specht
ist Persönlichkeitspsychologin. Sie lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin und hat ganze Bücher über die Entstehung und die Veränderung von Persönlichkeit geschrieben.

Im Interview mit egoFM klärt sie den Unterschied zwischen Identität und Persönlichkeit, spricht darüber, warum es so schwerfällt, eine Antwort auf die Frage "Wer bin ich?" zu finden und zeigt auf, dass eine Identitätskrise auch etwas Positives sein kann.
  • Persönlichkeitspsychologin Jule Specht
    Das Interview zum Nachhören


Und wer bist du?

Auf diese Frage antwortet man für gewöhnlich mit dem Namen, den einem die Eltern gegeben haben. Will man aber etwas tiefer einsteigen, ist es oft gar nicht so leicht, die eigene Identität in Worten auszudrücken.

Was ist Identität überhaupt?


Der Begriff "Identität" ist nicht eindeutig definiert: Manchmal wird er synonym mit "Persönlichkeit" verwendet. Dann geht es um die Ausprägungen verschiedener Persönlichkeitsmerkmale, die eine Person aufweist. Andere sehen Identität als etwas sehr Subjektives an, als das Bild, das man von sich selbst hat. In der Soziologie geht es dagegen häufig um Eigenschaften, die man sich selbst oder anderen wegen einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit zuschreibt. Das könnten sowohl eine Nation oder eine Religion, als auch die Fangemeinde einer Band sein.

"Wir sind vielfältige Wesen"


Man geht davon aus, dass es mehrere 1000 Persönlichkeitseigenschaften gibt, auf denen man jeweils eine Ausprägung hat.
Und diese zeigen sich dann noch in unterschiedlichen Situationen in unterschiedlicher Weise und verändern sich über die Zeit! "Wer bist du?" Na, wenn ich das mal wüsste!

Persönlichkeit hat man schon vor der Geburt


Schon im Bauch der Mutter sind Babys unterschiedlich aktiv und nehmen ihre Umwelt unterschiedlich wahr – diese Unterschiede werden als erster Ausdruck einer Persönlichkeit gewertet. Im Laufe des Lebens haben dann verschiedenste Faktoren einen Einfluss darauf, wie sich unsere Persönlichkeit entwickelt. Dabei spielen Gene immer eine gewisse Rolle, aber auch Lebenserfahrungen, wie zum Beispiel der Eintritt ins Berufsleben.


Wenn die Identität wankt


Jule Specht spricht von einer typischen "Identitätskonfusion" in der Jugendzeit.
Man ist sich unsicher, wer man ist und was einen ausmacht, die Komplexität der eigenen Persönlichkeit und die Vielzahl an Rollen, die man in dieser Phase abwechselnd spielt, machen es da nicht leichter.

"Das wächst sich aber meistens aus - mit der Zeit entwickelt man eine gewisse Gelassenheit." - Jule Specht

...und trifft Entscheidungen, wählt einen Beruf und einen Lebensstil. Aber auch danach kann es noch zu Identitätskrisen kommen, zum Beispiel zu der allgemein bekannten midlife crisis.

Für viele Menschen stellt sich dann die Frage: Will ich so sein, wie ich all die Jahre war?


Ist die Antwort Nein, so kann die eigene Identität und damit auch das eigene Leben sich radikal ändern. Eine solche Krise ist für die Betroffenen meist sehr unangenehm, kann aber positive Konsequenzen nach sich ziehen.

"Ich forsche viel zur Persönlichkeitsentwicklung im Rentenalter. Es ist nicht selten so, dass Menschen, die aus dem Berufsleben aussteigen, sich noch einmal neu entdecken und zum Beispiel beginnen zu reisen oder in Schulen vorzulesen oder sich intensiv mit ihrem Garten zu beschäftigen." - Jule Specht

Suche nach der eigenen Identität


Die eigene Identität ist also häufig schwer fassbar, nicht immer ist man damit zufrieden. Für manche Menschen fühlt sie sich auch geradezu unvollständig an, beispielsweise, wenn bei Adoptivkindern die Umstände der Geburt nicht klar sind. Auch wenn es für die Personen selbst keine Rolle spielen müsste, die leiblichen Eltern und das Geburtsland werden eben normalerweise auch als Teil der Identität begriffen. Fehlt einem Wissen über diese scheinbar entscheidenden Faktoren, kann das eine erneute Suche nach der eigenen Identität auslösen.

Keine gespaltene Persönlichkeit – aber mehrere Identitäten


In den seltensten Fällen hat eine Person nur eine Identität.
Man ist auf der Arbeit jemand anders als zu Hause, in der Familie jemand anders als im Freundeskreis. Und in verschiedenen Situationen zeigen sich Persönlichkeitsmerkmale auch unterschiedlich stark – man kann also sowohl der*die strebsame Mitarbeiter*in, als auch der*die faule Mitbewohner*in sein.

Manche erschaffen sich auch bewusst eine weitere Identität und führen im Internet unter falschem Namen das Leben einer fiktiven Person. Für Jule Specht steht dahinter der Wunsch nach Anonymität. Nichts was, diese fiktive Person erfährt, muss mich betreffen. Gleichzeitig kann diese Person alle Neigungen ausleben, die ich mir selbst vielleicht nicht zugestehe.

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