Objektophilie: Verliebt in einen Zug

Objektophilie: Verliebt in einen Zug

Was hat es damit auf sich?

Von  Viktoria Molnar
Manche Menschen entwickeln ernste Gefühle für Objekte. Worum es bei dieser Objektophilie geht und wie Betroffene damit umgehen, kannst du hier lesen und hören...

Abfahrt, der Zug pfeift

Bei diesem Geräusch bekommt manch ein Reisefan nicht nur Fernweh, sondern sogar Herzklopfen. Denn Zugfahren bedeutet schließlich Erfahrungen sammeln zu können, dem Alltag zu entfliehen und sich wortwörtlich neu zu orientieren. Manchen Menschen jedoch bereitet das Zugfahren aus einem ganz anderen Grund Herzklopfen - und zwar weil sie objektophil sind.
  • Objektophilie
    Verliebt in einen Zug

Was hat es mit Objektophilie auf sich?

Ach, wenn wir verliebt sind, dann befindet sich unser Körper im Rausch der Glücksgefühle: Wir könnten singen, tanzen und nur so durch den Tag schweben - high on love quasi. So geht es auch Vanessa. Wenn man den*die Partner*in sieht, freut man sich, man hat Schmetterlinge im Bauch, der Herzschlag wird schneller, Glückshormone werden ausgeschüttet - man ist einfach glücklich. Nur wurde Vanessas Herz nicht etwa von einem Menschen erobert, sondern von einem Zug.

"Und das ist das Gefühl, was mich permanent begleitet, wenn ich diesen Zug sehe und auch, wenn ich mit ihm fahren kann." - Vanessa

Vanessa ist also objektophil

Das bedeutet, dass Vanessa romantische Gefühle für einen Gegenstand hat – in ihrem Fall den Triebzug HC Desiro. Objektophilie beschreibt die sexuelle und romantische Anziehung von Menschen zu Gegenständen. Einen Fetisch hat Vanessa damit aber nicht: Objektophile grenzen sich klar von Fetischist*innen ab, da sie eben nicht nur sexuell an dem Gegenstand interessiert sind. Und so leben Objektophile auch in Beziehungen mit den jeweiligen Gegenständen und haben auch eine individuelle Intimität. Vanessa beispielsweise lebt ihre Liebe aus, indem sie täglich mit dem Zug fährt, ihn filmt und fotografiert.

Wie sehr bestimmt diese Liebe ihr Leben?

"Ich würde tatsächlich so weit gehen, dass ich sage, die Beziehung zu diesem Zug dominiert meinen kompletten Alltag, es gibt nichts mehr, was nicht auf diese Beziehung ausgelegt ist.''- Vanessa

Die Objektsexualtät ist in der Psychologie derzeit nicht als Begriff etabliert, da die Thematik kaum erforscht ist. 

Vermutet wird aber, dass objektophile Personen oftmals im Leben enttäuscht worden sind, sexuelle Missbrauchserfahrungen gemacht und dadurch eine Angst vor zwischenmenschlicher Nähe entwickelt haben. Ähnliches berichtet auch Vanessa:

"Warum es sich genau um diesen Zug handelt, kann ich nicht beantworten, das hat sich mehr oder weniger so ergeben, der Hintergrund wird vermutlich sein, dass ich mit diesem Zug nichts Negatives verbinde." - Vanessa

Vanessa selbst vermutet, dass ihre Objektophilie auch von ihren psychischen Vorerkrankungen rühren kann - sie hat Depressionen und eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Es wäre jedoch zu einfach oder sogar falsch, die Objektophilie als psychische Störung abzutun, da Menschen, die Gegenstände lieben, in ihrer Liebe kaum Leidensdruck verspüren und oftmals sehr glücklich sind.

Das Stigma

Genaue Zahlen darüber, wie viele Menschen in Deutschland objektophil sind, gibt es nicht. Denn meistens ist das Outing mit großen Ängsten verbunden, wie vor gesellschaftlicher Ächtung beispielsweise. Vanessa jedoch hat sich Anfang 2022 geoutet und das auch mit ihrer neuen Arbeitsstelle kommuniziert. Und trotzdem wünscht sich Vanessa für die Zukunft nur eines:

"Ich habe nur einen großen Wunsch in der Hinsicht und zwar, dass die Objektophilie mit als Sexualität anerkannt wird und nicht mehr so in der Gesellschaft verfeindet wird und nicht mehr als Abnormales oder Widerliches oder Ekeliges angesehen wird." - Vanessa

Dem können wir nur zustimmen, denn Liebe ist doch - sofern niemand dabei verletzt wird - immer etwas Schönes, egal, wen oder was man liebt.

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