Visual History: Wenn Geschichte sichtbar wird

Visual History: Wenn Geschichte sichtbar wird

Annette Vowinckel im Interview mit egoFM Elise

Wie wichtig Bilder für unsere Geschichte sind und hinter welchen Fotos mehr steckt als gedacht, erzählt Historikerin Annette Vowinckel.

"Ich würde sagen, Bilder sagen etwas ganz anderes als 1.000 Worte."

Das sagt Annette Vowinckel und bricht damit mit dem altbekannten Kitschsatz "Ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte." Die Historikerin arbeitet am Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam und ist Expertin für Visual History, ein Forschungsfeld, das sich mit all dem beschäftigt, was man mit den Augen wahrnimmt. So werden also Fotos, Filme, Malerei oder Grafiken zu eigenständigen Geschichtsgegenständen. All diese Bereiche bilden Geschichte nicht nur ab, sondern es geht auch um ihre Hintergründe. Bei Fotos sind das etwa die Fotograf*innen und ihre Beweggründe für die Bilder. Die Forschung zu diesen Bereichen findet allerdings trotzdem hauptsächlich durch Texte statt, etwa Autobiografien oder Briefwechsel der jeweiligen Fotograf*innen oder Fotojournalist*innen.
  • Annette Vowinckel im Interview
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Die Geschichte des Fotos vom "Napalm-Mädchen“

Dass oft mehr hinter einem Bild steckt als anfangs gedacht, zeigt Annette Vowinckel mit dem Beispiel des sogenannten "Napalm Girls". Es ist eines der symbolkräftigsten Fotos des Vietnamkriegs und bekanntesten Pressefotos und zeigt ein Mädchen, das splitternackt auf die Kamera zurennt, nachdem es sich die von flüssigem Brennstoff entzündeten Kleider vom Leib gerissen hat. Es ist ein Foto, das in zahlreichen Zeitungen und Büchern abgedruckt wurde und das fast jede*r schon mal gesehen hat.

Wie wichtig Visual History sein kann, zeigen die Hintergründe des Fotos.

Annette Vowinckel erklärt, früher dachte man, das Bild zeige einen amerikanischen Angriff auf Vietnam. Es stellte sich aber heraus, dass der Angriff von südvietnamesischen Militärs geflogen wurden. Außerdem sollte das Bild zuerst gar nicht gezeigt werden, weil das Mädchen komplett nackt ist und für viele zu brutal schien. Um das auszubalancieren, wurde der Fotograf in das Krankenhaus geschickt, in dem das Mädchen wegen seiner Verbrennungen an Rücken und Armen behandelt wurde. Dort machte er ein "freundlicheres" Bild am Krankenhausbett mit der Mutter. Das wiederum kennt aber heute fast niemand mehr, laut der Historikerin ist es auch nur schwer in Archiven zu finden. Das ursprüngliche Bild findet man jedoch bereits mit einer kurzen Suchanfrage.

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Was können Bilder, was Text nicht kann?

Dadurch, dass mit Fotos noch der visuelle Aspekt dazukommt, haben Bilder einen anderen Wert als Textquellen. Die Historikerin beschreibt den Unterschied mit einem aktuellen Beispiel.
"Neuerdings sind es die Bilder von Putin an seinem sechs Meter langen Tisch, gegenübergestellt einem Selenskyj, der im olivgrünen T-Shirt Zoom-Botschaften verbreitet. […] Das ist eine Form von symbolischer Kommunikation, die aber wahnsinnig wirksam ist." – Annette Vowinckel

Man müsse sich jedoch immer die Frage stellen, wer welche Bilder für welchen Zweck produziere und welche (Redaktions)abläufe dahinter stehen.



Medienkompetenz als Schulfach

Mit Social Media ist die Bilderflut heute schier unendlich. Jede*r kann innerhalb von Sekunden Fotos ins Netz stellen, sie mit kostenlosen Apps bearbeiten und retuschieren und ihnen so eine völlig neue Bedeutung zuschreiben. Annette Vowinckel fordert deshalb auch, dass Medienkompetenz bereits in der Schule gelehrt wird, um beispielsweise die Echtheit eines Fotos zu erkennen.
"Kommt das Bild aus einer sicheren Quelle, der ich vertrauen kann oder kommt es von irgendwoher und ich weiß gar nicht wer dahintersteckt. Und ich glaube da brauchen wir […] ein großes Maß an Medienkompetenz, was man auch in den Schulen trainieren müsste wie lesen und schreiben, um festzustellen, wer will mir jetzt mit diesem Bild welche Geschichte erzählen." – Annette Vowinckel

Verantwortung der Medien

Aber nicht nur Medienkompetenz, auch die Medien selbst nimmt die Expertin in die Verantwortung. Gerade bei Krisen wie der Corona-Pandemie oder dem Krieg in der Ukraine entstehen viele emotionale und erschütternde Bilder. Es herrsche eine große Diskussion um Bildethik. Das deutsche Medienrecht schreibt zum Beispiel mit dem Persönlichkeitsschutz vor, dass man für jedes Bild, auf denen Personen zu sehen sind (ausgenommen Fotos von vielen Menschen bei Demonstrationen zum Beispiel), ihre Zustimmung benötigt. In den USA sei das anders, erzählt Annette Vowinckel. Hier sei die Pressefreiheit diesbezüglich höher als der Persönlichkeitsschutz. Medien müssen sich deshalb ihrer Verantwortung bewusst sein und sich jedes Mal die Frage stellen:
"Ist das für die Personen, die darauf abgebildet sind, tragbar? Können wir die möglicherweise um Erlaubnis bitten, es zu veröffentlichen? Und wenn die das nicht möchten, dann sollten wir das auch nicht tun." – Annette Vowinckel

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