Radiohead - Kid A

Radiohead - Kid A

Der Lieblingstonträger von vor 20 Jahren

Radioheads viertes Album ist ein Meisterwerk - aber eines, das auch erst nach 20 Jahren zünden kann.

Ach verflixt, was haben die denn jetzt schon wieder vor? Einfach machen es einem Radiohead halt wirklich nicht.


Die Oxforder Band hatte Anfang 2000 schon eine ziemlich kuriose Karriere hinter sich: Anfangs noch schnell als One-Hit-Wonder verschrien, waren sie mit dem zweiten Album plötzlich fast sowas wie ein Kritikerliebling. Dann kam das unbestrittene Meisterwerk OK Computer: Obwohl Radiohead dafür die Gitarren schon ein gutes Stück leiser drehten, waren Thom und Kollegen jetzt die größte Rockband auf dem Planeten.

Die Erwartungshaltung an das vierte Album war im Jahr 2000 vorsichtig gesagt gigantisch hoch. Und als Radiohead dann weder Musikvideos noch Vorab-Singles veröffentlichten wollten, zog der oder die ein oder andere schon einmal die Augenbraue hoch.

Aber Radiohead lieferten ab. Allerdings komplett anders als damals gedacht


Rock'n'Roll dekonstruiert

Wenn man heute Kid A auflegt, könnte man sich eigentlich wundern, warum sich damals jede*r so aufgeregt hat. Aber die damaligen Hörer*innen wurden auf dem völlig falschen Fuß erwischt. Für Fans, die mehr Songs wie "My Iron Lung" oder "Karma Police" hören wollten, ist der Anfang der Platte schon ein ziemlich ungemütlicher Ausflug aus der Komfortzone. "Everything In It’s Right Place" zeigt nämlich schon, wie weit sich die Band vom vertrauten Sound entfernt hat:

Radiohead ist eine Band mit drei Gitarristen - im ersten Song hört man keine einzige davon. Dafür gibt es repetitive Textzeilen, elektronisches Piano und elektronisch verfremdete Vocals - heute ganz normal, damals fast schon verstörend. Der Titeltrack dreht den Vocoder sogar noch stärker auf: Thom Yorke singt gar nicht mehr, er spricht den Text und überlässt Jonny Greenwoods Synthesizer die Gesangsmelodie.

Komplett abgefahren, aber vor allem damals schon auch echt überfordernd.


Richtig Tempo kommt dann zum ersten Mal bei "The National Anthem" ins Spiel: Allerdings schon wieder mit minimalen Gitarren, dafür mit Anflügen von Free Jazz. Bis zu "How To Disappear Completely" könnte man eigentlich fast schon vergessen haben, welcher Band man da gerade zuhört. Aber der Song holt nicht nur zumindest in Ansätzen in den klassischen Radiohead Sound zurück: Er versucht auch zu erklären, wieso die Band so einen spektakulären Umbruch hingelegt hat.

Vor Kid A waren Radiohead die letzte große Hoffnung der Rockmusik - und die Musikwelt hätte sich keine schlechtere Band dafür aussuchen können.


Wo andere Bands sich genüsslich im Erfolg sonnten, fühlten sich Radiohead einfach nur deplatziert. Interviews und jegliche Promoevents waren für sie Horrortermine. Und sogar die Konzerte fühlten sich wenig erfüllend an: Denn egal wie viele Hits die Band mittlerweile auch Programm hatte: Alle wollten nur diesen einen Hit von ganz früher hören. Auch wenn sich ihr Label wahrscheinlich genau das gewünscht haben dürfte: Für Radiohead ging es so nicht weiter. Es musste etwas ganz anderes her.

Nachdem Radiohead dieses Gefühl der Bezugslosigkeit vertont haben, folgt nach Instrumentalstück "Treefingers" dann fast so etwas wie ein Rocksong: "Optimistic" verbindet kratzige Gitarrenriffs mit panischen Schreien von Thom Yorke und zeichnet das Bild einer Welt, die der Kapitalismus in die Apokalypse manövriert hat. Solche Themen hat der Vorgänger auch schon behandelt.

Doch wenn OK Computer sich noch melancholisch und hoffnungslos anhört, klingt Kid A schon nach purer Angst.


Da passt es nur perfekt, dass Thom Yorkes Texte wenig konkret sind und dem eigenen Kopf genug Platz lassen, sich selbst auszumalen, von welchen Schrecken gesungen wird. So kann "Idioteque" genauso gut von der Angst vor dem dritten Weltkrieg, wie auch von der Klimakatastrophe handeln:

Es ist fast schon surreal gruselig, wie der Song 20 Jahre später einfach perfekt zum Weltgeschehen passt.


Meeting People Is (Not) Easy

Vermutlich hätten sich Radiohead für so einen Move heutzutage einen gigantischen Shitstorm eingefangen.

Denn auch damals war die Reaktion auf Kid A schon ziemlich zweigeteilt.


Die Fans, die klassischen Rock hören wollten, waren natürlich komplett verstört. Auf neue Fans aus dem elektronischen Lager konnte man auch nicht so wirklich zählen: Aphex Twin, Autechre und Boards Of Canada waren zu dem Zeitpunkt schon ein Stück weiter. Auch dem ein oder anderen Kritiker war der neue abstrakte Sound eine Nummer zu viel.

Aber die ganz tapferen Fans wurden dann eben doch belohnt - denn eigentlich hatten Radiohead gar keinen großen Rückzieher gemacht: Sie hatten sich einfach weiterentwickelt. Alle elektronischen Soundelemente waren kein Selbstzweck, sie waren nur Hilfsmittel, um die Themen der früheren Alben noch stärker zu erkunden. Wer ständig über Paranoia und Bezugsverlust singt, kann ja nicht jedes Mal wieder mit dem gleichen Sound arbeiten.

Und so entstand am Ende ein Album, dass noch einmal das Format als solches zelebrierte und auch heute noch im Idealfall wirklich am Stück ohne Unterbrechung gehört werden sollte.


Kid A war der Moment, an dem sich Radiohead freigestrampelt hatten

So gut wie jedes Album danach klang anders, sei es das paranoid politische Hail To The Thief, das elektronisch frickelige The King Of Limbs oder auch das epochal traurige A Moon Shaped Pool. Die Band hat gezeigt, dass sie nur funktionieren kann, wenn sie sich ständig verändert und im neuen Jahrtausend legte ihnen dann niemand mehr Steine in den Weg.

Zu verdanken haben sie das diesem einen, herrlich verstörenden Album, dass auch 20 Jahre später noch ganz besonders herausragt.




Tracklist: Radiohead - Kid A

01 Everything In Its Right Place
02 Kid A
03 The National Anthem
04 How To Disappear Completely
05 Treefingers
06 Optimistic
07 In Limbo
08 Idioteque
09 Morning Bell
10 Motion Picture Soundtrack

Kid A ist am 02. Oktober 2000 bei Parlaphone erschienen.

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