Snail Mail: Valentine

Snail Mail: Valentine

Das Album der Woche

Von  Vitus Aumann
Lindsey Jordan macht aus widerlichem Trennungsschmerz ein großartiges Album.


Teenie Filme haben mein Leben zerstört!

Oder zumindest unrealistische Erwartungen heraufbeschworen. Wie soll man sich mit dem 08/15 Alltag zufriedengeben, wenn die scheinbar so ähnlichen Kids auf dem Bildschirm spontan in Geheimagentenkarrieren hineinrutschen, mal so eben ein modernes Königreich übernehmen sollen, oder – natürlich die mit Abstand verlockendste Perspektive – neben der Schule aus dem nichts plötzlich zum Superstar werden können?

So gesehen dürfte sich Lindsey Jordan eigentlich kaum beschweren, ihre bisherige Karriere unter dem Decknamen Snail Mail ist schon ziemlich filmreif. Schon vor dem Schulabschluss sahen Kritiker*innen die langerwartete Retterin des Indierocks in ihr, kurz nach dem Debütalbum Lush galt die Prophezeiung als eingetroffen. Aber die Realität ist eben kein Teeniefilm und steile Aufstiege zehren ziemlich an der Substanz:

Das zeigt Lindseys zweites Album Valentine nur zu deutlich – aber noch viel deutlicher zeigt es ihr unglaubliches Talent.



 

Schonungsloser Trennungsschmerz

Die Schattenseiten des rasanten Aufstieges werden nach nicht einmal 20 Sekunden deutlich hörbar: Kameras werden zu Parasiten und Dinge, die im privaten geklärt werden müssen, finden plötzlich unter Scheinwerferlicht statt. Und im Openertrack "Valentine" entlädt sich folgerichtig auch gleich der ganze Frust – der Refrain bricht dann wie ein emotionaler Weltuntergang durch die Kopfhörer.

Wo sich Lush noch gerne Zeit gelassen hat und mit subtilen Kniffen punkten konnte, drückt Valentine das Gaspedal durch. Die sanfte Sommermelancholie wird zu schneidendem Schmerz.


Vor allem in emotionaler Hinsicht ist das zweite Album deutlich weniger behutsam: Songs von Snail Mail hatten zwar schon immer das große Talent, die Stimmung in wahnsinnig sympathischer Weise in den Keller zu ziehen, Valentine wird hier sogar noch ein gutes Stück heftiger. Zeitgleich mit ihrem Aufstieg in den Indiehimmel musste Lindsey eine offensichtlich übermäßig ätzende Trennung verarbeiten – nicht gerade ein seltenes Thema für ein Album, aber Lindsey beschreibt den Verlust der Partnerin so schonungslos und bildhaft, dass man sich beim Hören kaum entziehen kann.



Das liegt auch am erst mal unerwarteten Klang der Platte:

Statt weiter auf recht traditionellen Bandsound zu setzen, flirtet Valentine mit experimenteller Popmusik. Jetzt dürfen düstere Synthieklänge eine fast schon apokalyptische Stimmung heraufbeschwören und verträumte Klavierklänge den Song langsam ins albtraumhafte ziehen. Besonders "Ben Franklin" ist ein ziemlich eindrucksvoller Ausflug aus der Komfortzone, bei dem Lindsey sich nicht nur besonders verletzlich gibt, sondern nebenher auch trocken ihren Aufenthalt in einer Rehab Facility erwähnt. Ganz verabschieden muss man sich vom alten Snail Mail Sound aber nicht: "Automate" und "Glory" erinnern noch stark ans Debüt, bevor "Mia" dann einen episch orchestralen Schlusspunkt setzt und den Blick nach vorne richtet.

Happy End den Umständen entsprechend

Bei Geschichten über einen Rehab, alkoholgetränkten Lyrics und selbstzerstörerischen Trennungsdramen wittern wahrscheinlich viele die nächste große Absturzgeschichte. Aber der sensationsgeilen Meute ist Lindsey ein gutes Stück voraus: Ihre Songs schrecken zwar immer noch nicht davor zurück in persönliche Themen einzutauchen, aber dank Social Media-Verzicht ist das jetzt der einzige Ort, wo über diese Dinge gesprochen wird. Und auch der Rehab war einfach nur ein kontrollierter Schritt, um möglichst effizient wieder auf die Beine zu kommen. Mit Valentine hat Lindsey Jordan nicht nur den Schlussstrich unter ein ätzendes Kapitel gezogen, sie hat dabei auch noch ihren musikalischen Horizont ganz weit aufgestoßen und die Kontrolle über ihre Karriere zurückbekommen.

Ein filmreiferes Happy End kann es in der Realität wohl kaum geben.

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Tracklist: Snail Mail - Valentine


01 Valentine
02 Ben Franklin
03 Headlock
04 Light Blue
05 Forever (Sailing)
06 Madonna
07 c. et al.
08 Glory
09 Automate
10 Mia


Valentine von Snail Mail wurde am 05. November 2021 via Matador veröffentlicht.

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