Chelsea Hotel: Postcards im Interview

Chelsea Hotel: Postcards im Interview

Julia Sabra im Interview

Die Band Postcards kommt aus Beirut, der Hauptstadt des Libanon, das sich seit 2019 im Ausnahmezustand befindet.

Im Interview erzählt Sängerin Julia von ihrer Situation und wie sie diese in ihrem neuen Album After the Fire, Before the End verarbeitet haben.
  • Postcards zu Gast bei Sandra
    Das komplette Interview


Leben in Krisen

Der Libanon wird derzeit von Krisen beherrscht: wirtschaftliche, politische und soziale Instabilität prägen den Alltag der Bevölkerung. Julia berichtet, sie leben dort von Tag zu Tag, man kann nichts für die Zukunft planen, weil niemand weiß, was passieren wird.
 
"For us at least it's still liveable, but it's not a comfortable life at all." – Julia von Postcards
 

Mangelnde Stromversorgung

Die Elektrizitätskrise hat sich im Vergleich zum vorherigen Monat etwas entspannt. Postcards hatten Glück und haben ihr Album im Mai fertig aufgenommen. Zu dieser Zeit herrschte noch eine "normale" Stromknappheit, er fiel nur für drei Stunden am Tag aus, erinnert sich die Sängerin. Da alle einen Generator haben, konnte man den Ausfall so gut überbrücken. Die wirkliche Krise hat erst im Sommer begonnen; an guten Tagen haben sie nur vier bis fünf Stunden keinen Strom, an schlechten fällt er für den kompletten Tag ausWenn sie erst im Sommer ins Studio gegangen wären, hätte es wegen der mangelnden Stromversorgung nicht funktioniert.

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Beirut wurde von einer Explosion zerstört

Im August 2020 kam es am Hafen von Beirut zu einer heftigen Explosion. Julia und ihr Partner und gleichzeitiger Schlagzeuger Pascal leben zusammen, Gitarrist Marwan nur wenige Minuten von ihnen entfernt – alle in der Gegend des Hafens. Julia stand glücklicherweise zum Zeitpunkt der Explosion neben einer Wand, aber Pascal wurde getroffen und lag bewusstlos blutüberströmt auf dem Boden - atmete aber zum Glück noch. Mithilfe von Nachbar*innen und Freund*innen konnte er ins Krankenhaus gebracht werden.
 
"I think, when it first happened, I just thought, okay, it's our turn. Like, our parents lived the civil war, and now it's our turn. Cause we had no idea, what had happened. I thought it was like a bomb or a missile or something and I just thought, it's our turn to experience the war and that was a terrifying thought." – Julia von Postcards
 

"Home is so sad"

Diesen Song haben Postcards als einen der wenigen komplett nach der Explosion geschrieben. Bei den meisten anderen war die Musik schon davor fertig. So konnten sie all ihre Emotionen dort hinein fließen lassen, die nach der Katastrophe raus mussten.

 

Was ist das Ende?

Das Album heißt After the Fire, Before the End. Das Ende hat für sie verschiedene Bedeutungen, erzählt Julia. Auf der einen Seite sind sie sich seit dieser Zeit ihrer Sterblichkeit sehr bewusst geworden. Weil sie dem Tod so nahe waren, denken sie sehr oft darüber nach. Auf der anderen Seite hoffen sie auf ein Ende der Phase, in der sich ihre Heimat gerade befindet. Schon vor der Explosion dachte Julia, es könnte nicht schlimmer werden, aber die Situation hat sich immer weiter verschlechtert und bis heute hat sich nichts daran geändert.
 

Aufwachsen im Libanon

Vor 2019 mussten die Band sich nicht wirklich mit den Problemen des Landes beschäftigen. Da sie Teil der Mittelschicht sind, hatten sie den Luxus sich emotional davon zu distanzieren. Die Ermordungen, Bomben, der Krieg mit Israel, Kindersoldaten konnten sie alle ignorieren; die Generation ihrer Eltern war immer froh, dass wenigstens kein Krieg herrscht.
 


Florierende Musikszene in Beirut

Julia sagt, Beirut sei eine kleine Stadt, in der jede*r jede*n kennt. Auch die verschiedenen Musiker*innen der Stadt sind eine kleine Gemeinschaft, die sich gegenseitig unterstützt und kooperiert. Von Post Rock, über Ambient, Metal und Rap ist alles dabei.
 

Inspirierende Musiker*innen

Die Künstler*innen, von denen sie sich inspirieren lassen, sind im Prinzip immer dieselben: Nick Cave und Big Thief hatten immer einen großen Einfluss auf Postcards, aber auch Bands wie Radiohead. Ihre Herangehensweise an Musik ändert sich eher abhängig von ihrer Lebenssituation.
 

Platz für Träume

Ihr größtes Ziel ist es, von der eigenen Musik leben zu können - und natürlich auch wieder auf Tour gehen zu können. Im Frühling nächsten Jahres machen Postcards auch einen Abstecher nach Deutschland.

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