Hall of Fame: Ton Steine Scherben

Hall of Fame: Ton Steine Scherben

Musikalische Meilensteine aus der egoPerspektive

Rio Reiser und Ton Steine Scherben sind nicht gerade die größten musikalischen Exportschlager von Deutschland. Aber sie haben ziemlich große Spuren hinterlassen - und das nicht nur in der Musikwelt.

 quartett-ton-steine-scherben_v1.png
  • egoFM Hall of Fame: Ton Steine Scherben


Stand ja lange genug leer...

Wohnungsmangel, überirdische Mietpreise, Wohnungssuchfrust. Das kennen wir nur zu gut. Der Frust wird noch größer, wenn Wohnungen nicht nur viel zu teuer vermietet werden, sondern der vorhandene Mietraum gar nicht erst angeboten wird. Leerstehende, ungenutzte Gebäude, die verfallen, keiner kümmert sich. Aktuell gibt es allein in Berlin laut dem Leerstandsmelder beispielsweise 1.288 Leerstände. Was aber, wenn sich Menschen zusammenschließen, ein leeres Haus bewohnen und in Selbstverwaltung bewirtschaften? Hausbesetzung ist in Deutschland illegal - du kannst dir nicht einfach fremdes Eigentum nehmen, nur weil sich der*die Eigentümer*in nicht darum kümmert. Soweit die Rechtslage. Aber wie sieht es von der moralischen Seite aus? Ist die Idee der Hausbesetzung so verwerflich? Steckt dahinter Potenzial? Solche Gedanken hatte Anfang der 70er auch Band Ton Steine Scherben. 

Bürgerschreck Hausbesetzerband

Jung, idealistisch, pazifistisch, anarchistisch. Und mit ihren Ansichten für die gutbetuchte Mittelschicht weiß Gott zu extrem. War das Kampf gegen den Kapitalismus und die vorherrschenden Unterschiede in der Gesellschaft? Oder schon Anstachelung zum Terrorismus? Aber für Mutti und Vati in der hellen Großraumwohnung waren die "primitiven" Songtexte, wie es der Interviewer im ersten Fernsehauftritt von Ton Steine Scherben formuliert, ja auch nicht gedacht. Sondern für junge Menschen, vor allem Lehrlinge. 

Ton Steine Scherben, das sind 1970 die 20-jährigen West-Berliner R.P.S. Lanrue (bürgerlich Ralph Peter Steitz), Rio Reiser (bürgerlich Ralph Möbius), Kai Sichtermann und Wolfgang Seidel.

Mit ihrem ersten Liveauftritt am 6. September 1970 beim Love-and-Peace-Festival sorgte die Band (unter dem Namen Rote Steine) bereits das erste Mal für Furore. Die Festival-Veranstalter verließen mit den Eintrittsgeldern und ohne die Künstler*innen zu bezahlen das Gelände. Rio Reiser soll daraufhin das Publikum angestachelt haben, die Veranstalter "ungespitzt in den Boden zu hauen". Gesagt getan: Kurze Zeit später stand erst das Organisationsbüro der Veranstalter und dann die Bühne in Flammen. Ton Steine Scherben hatten sich positioniert - und mit ihrem Auftritt für Aufmerksamkeit gesorgt. 


Auch von der Wohnsituation und zwielichtigen Immobilienspekulanten war die Band in dieser Zeit genervt. Vor und einem Auftritt in einer Stadt, grübelten sie sich oft mit dem Publikum über leerstehende Gebäude und wie dieser freie Raum sinnvoll genutzt werden könnte. Oft fehlte in den Ballungszentren Platz und Freiraum für junge Menschen - was wäre also mit einem Jugendclub? Oder einem Proberaum? Häufig endeten diese Diskussionen darin, dass alle zusammen loszogen um ein Haus zu besetzen. Anarchistische Gedanken, die auch in der Heimat West-Berlin Anklang fanden. 

Die wohnen in den schärfsten Villen, unsereins im letzten Loch!

Die erste erfolgreiche Hausbesetzung West-Berlins begann ähnlich, wie die Diskussionen von Ton Steine Scherben mit dem Publikum. Jugendliche waren auf der Suche nach einem eigenen Raum - ohne Aufpasser*in. Am Mariannenplatz fanden sie eine alte Fabrik. Vier Etagen, leerstehend. Am 3. Juli 1971 besetzten circa 300 Jugendliche erstmals erfolgreich ein Haus in Berlin. Das Haus, was bald als Jugendzentrum fungieren würde, war in einem ziemlich schlechtem Zustand - zusammen anpacken, aufräumen und ausmisten war angesagt. Während dieser Zusammenarbeit stellte sich heraus, dass viele der Jugendlichen noch Zuhause wohnten, dort Probleme hatten und wegwollten. 
"Ich war zuhaus das einzige Mädchen gewesen, hatte noch zwei Brüder und immer ein Zimmer gehabt - solang ich denken kann. [...] Und wie es so ist mit drei Leuten in einem Zimmer - es waren halt immer Stänkereien gewesen. Und dann bin ich von zuhause abgehauen. Dann war ich zwei Monate unterwegs gewesen, bin zum Jugendamt gegangen, die haben mich dann in eine Wohngemeinschaft reingesteckt. Und da hab ich's echt nicht ausgehalten gehabt." (Rauchhaus-Bewohnerin)

Minderjährig, kein Geld und dann eine Wohnung in Berlin mieten? Schwierig - wenn nicht gar unmöglich. Genau das war auch Thema bei einem Teach-In mit Konzert von Ton Steine Scherben anlässlich des Todes von Georg von Rauch in der TU Berlin am 8. Dezember 1971. Beim Brainstorming für geeignete Räumlichkeit zum Wohnen stießen sie auf das leerstehende Schwesternwohnheim des ehemaligen Krankenhauses Bethanien.

"Sag mal, ist hier heut 'n Fest?"

Das Gebäude sowie das gesamte Krankenhaus gehörten der Stadt Berlin, stand leer, wurde nicht genutzt, aber beheizt. Letzteres sorgte in Kreuzberg bei andauerndem Wohnungsmangel, hohen Mieten und eher ärmeren Lebensverhältnissen sowieso für Unverständnis. Wenn das Haus frei ist und sogar beheizt wird - warum sollte hier nicht auch Menschen drin wohnen? Und genau so kam es dann auch.


Der Andrang zur Besetzung nach dem Konzert war groß - das ganze hatte sich nach dem Konzert der Scherben wie eine Art Lauffeuer herumgesprochen. Um 21:30 Uhr wurde die Polizei darauf aufmerksam und hielt die rund 300 Menschen, die zu dem Zeitpunkt noch vor dem Haus am Mariannenplatz waren davon ab, hineinzugelangen - mit Schlagstöcken und Tränengas. Großaufgebot. Am Abend stieß Bezirksstadtrat für Jugend Erwin Beck dazu und versuchte zu verhandeln. Bei den Verhandlungen einigte man sich darauf, dass sie vorerst weitere Wochen im von nun an genannten Georg-von-Rauchhaus wohnen dürften. Mit dabei: die Scherben.



Der Mariannenplatz war blau...

Am 19. April 1972 um 4.15 Uhr war es dann vorbei mit dem Traum der Hausbesetzung. 400 Polizeikräfte stürmten mit einer Großrazzia das Georg-von-Rauch-Haus, nahmen 28 Menschen vorläufig fest und stellten Beweismaterial sicher: leere Weinflaschen, Batterien, Wecker und ein defektes Wasserrohr. Normale Gegenstände in einem Haushalt von knapp 50 Personen zwischen 11 und 35 Jahren, oder? Die Polizei wollte damit beweisen, dass dort die Anwohner*innen Sprengstoffanschläge planen. Danach kam es immer wieder zu Razzien und Kontrollen. Rio Reiser hatte deshalb lieber immer seinen Perso bei sich - selbst wenn er schlief, lag er neben ihm. Auch Scherben-Gitarrist Lanrue erinnert sich ungern an diese Zeit und das damit verbundene Gefühl der ständigen Angst:
"Uns haben die Bullen nachts mit entsicherter MP aus dem Bett geholt." - R.P.S. Lanrue


Zehn leere Flaschen können schnell zehn Mollies sein

Die Presse bekam Wind von den Mutmaßungen über die "Machenschaften" im Rauchhaus. Sie stellte die Besetzungsgemeinschaft als "Terror-Zentrale" (Der Abend) dar oder vermutete öffentlich, dass bei Großrazzien Beweismaterial sichergestellt wurde, dass darauf hinwies, dass im Rauchhaus Bomben gebaut werden ( u.a. B.Z.): 
"Groß-Razzia! Kripo entdeckt Bomben-Werkstatt!" - Bild-Zeitung 

Die Gemeinde des Rauchhaus antwortet kurzerhand, erstellt seine eigene Zeitung mit einer Auflage von 30.000 Stück und verteilt diese in West-Berlin und -deutschland. Außerdem gingen die Jugendlichen auch an die TU um ein Teach-In durchzuführen - rund 2.000 Teilnehmer*innen hörten zu und erfuhren, um was im Rauchhaus eigentlich geht, was die Ziele sind. 

Und ich schrei' es laut: Ihr kriegt uns hier nicht raus!

Die erste große Razzia hinterließ auch bei Ton Steine Scherben einen Eindruck - und gab die Inspiration sich zu wehren und aufzuklären. 1972 veröffentlichten sie ihr Album Keine Macht für Niemand- eine Doppel-LP, die gesellschaftliche und politische Missstände anprangert. Außerdem widmeten sie ihrem Zuhause einen eigenen Song - den "Rauch-Haus-Song". Jung, revolutionär und anarchistisch fordern sie den Widerstand gegen das bestehende System. Noch heute ist der Titel des Albums in alternativen Kreisen verbreiten und immer wieder bei Demos, Besetzungen, Graffitis oder im Internet zu lesen. Das Album - wenn zur Zeit nicht sonderlich kommerziell erfolgreich - entwickelt sich zum Soundtrack einer ganzen Generation. Trotzige, junge, träumerische Menschen, die den Aufstand probten. Ganz wie die Scherben selbst.

Das ist unser Haus

Durch den Pressewirbel, die politische Aufmerksamkeit, der Einsatz von Bewohner*innen und Unterstützer*innen und natürlich auch der Band, wurde der WDR auf das Rauchhaus aufmerksam. In der Reportage Das ist unser Haus. Protokoll einer Hausbesetzung in Berlin wurden auch die Aufnahmen zum "Rauch-Haus-Song" mit der Band und den Besetzer*innen gefilmt:


Doch irgendwann hatten auch die Scherben die Nase vom Hausbesetzer-Leben voll. Der Idealistische Gedanke hinter der Besetzung verflog. Lanrue erinnert sich so an diese Zeit:
"Es war ein einziges Kommen und Gehen [...] Unsere Adresse stand ja auf unseren Platten und es kursierte das Gerücht in der Szene, dass man bei uns pennen könne. Irgendwann stand dann eine ganze Schulklasse aus Düsseldorf vor der Tür ..." - R.P.S. Lanrue

1974 brachten die Scherben ihr drittes Studioalbum heraus: Wenn die Nacht am tiefsten ist... macht stilistisch und textlich klar, dass die Band langsam genug von Hausbesetzerparolen hat. Der linken Szene bleiben sie aber trotzdem treu. Das Album floppte kommerziell. Generell war Geld sowieso ein leidiges Thema für die Band. Der Druck durch die Szene und Fans, die Preise für Platten und Konzerttickets niedrig zu halten, machte die Band in gewisser Weise kaputt. Claudia Roth - die letzte Managerin der Scherben - erinnert sich in einem Interview an das Ende der Band zurück:
"Es ist ja nicht so gewesen, dass keine Leute mehr kamen. Aber während man für BAP-Konzerte klaglos 50 Mark hinlegte, gab es Proteste, wenn die Scherben 15 Mark für eine Karte wollten. Da hieß es gleich: Ihr seid jetzt auch schon Ausbeuter." - Claudia Roth


1975 verzogen sich Ton Steine Scherben daraufhin aus Berlin - und auch aus dem anarchistischen Lebensstil. Auf einem Bauernhof in Fresenhagen in Nordfriesland wollten sie in Ruhe und ungestört an ihrer Musik arbeiten. Die Mitglieder der Band wechselten ständig durch, die Songs der Scherben werden milder. Ein Neuanfang. 



Das Ende

1981 richteten sich die Scherben mit ihrem vierten Album IV noch einmal neu aus.

Für das Album hagelte es von den meisten Fans der Band ordentlich Kritik. Das spürten die Scherben auch noch einmal nach ihrer letzten Tour, die sie mit 300.000 Mark Schulden beendeten. 1983 erschien das letzte Studioalbum Scherben. 1985 löste sich die Band auf. Rio Reiser war von nun an solo unterwegs und konnte mit Songs wie "König von Deutschland" und "Junimond" erstmals kommerzielle Erfolge einfahren - um den Schuldenberg abzubauen reichte das Geld jedoch nicht. 1996 starb Rio Reiser im Alter von nur 46 Jahren. Zu einem Gedenkkonzert in Berliner Tempodrom am 1. September 1996 kamen viele der alten Bandmitglieder noch einmal zusammen. Auch Künstler*innen wie Einstürzenden Neubauten, Herbert Grönemeyer oder Keimzeit nahmen teil.

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

Ein von @_doors_addicted_ geteilter Beitrag am




Auch wenn sich Deutschland bis heute schwer mit Ton Steine Scherben tut, ist ihr Einfluss unbestritten.

Ohne Rio Reisers Texte wären Bands wie Tocotronic, Kraftklub, Die Sterne und viele mehr kaum denkbar gewesen. Unbequeme, revolutionäre Texte und Musik die auch noch heute relevant sind - und in unsere egoFM Hall of Fame gehören.

Design ❤ Agentur zwetschke