Popmusik und Mental Health

Popmusik und Mental Health

Sind Musiker*innen anfälliger für psychische Erkrankungen?

Von  Gloria Grünwald
Gerade haben Leoniden aus Kiel und AVEC emotionale Songs über Mental Health, Depressionen und Angstzustände gedroppt. Psychische Erkrankungen scheinen - nicht nur in der Musik - immer mehr von ihrem Tabustatus zu verlieren. Aufklärung und offene Kommunikation sind wichtige Schritte, um ein sicheres Umfeld für Betroffene und ihre Angehörigen zu schaffen.


Warum (trotzdem) so viele Musiker*innen betroffen sind und es für sie sogar um ein Vielfaches wahrscheinlicher ist, psychisch krank zu werden, versuchen erste Studien zu erklären.

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"Can Music Make You Sick?"

Warum Musiker*innen anscheinend häufiger mit Depressionen oder Angststörungen zu kämpfen haben, ist bisher wissenschaftlich noch nicht wirklich intensiv untersucht worden. Aber: Die Studie "Can Musik Make You Sick" aus dem Jahr 2017 sorgte mit ihren Ergebnissen für einen Aufschrei. Durchgeführt von der Organisation Help Musicians UK kam sie zu dem Ergebnis, dass Popmusiker*innen eine dreimal höhere Wahrscheinlichkeit haben, psychisch krank zu werden als andere Menschen. Und die Studie "The 73%" aus Schweden stellte fest, dass 73% der freiberuflichen Musiker*innen - das sind knapp vier aus fünf – schon mal mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen zu tun hatten.

Zum Vergleich: In Großbritannien sind etwa 19% der Gesamtbevölkerung von Depressionen oder Angststörungen betroffen. Bei uns erkranken laut der Deutschen Depressionshilfe etwa 23% aller Deutschen im Laufe ihres Lebens an einer Depression. Wie kann man diesen Riesenunterschied erklären? Sind Künstler*innen und Musiker*innen einfach die "sensibleren Menschen"?


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Ein Beitrag geteilt von Marie-Luise Gunst (@gunst_werk)


Die Musikerin Marie-Luise Gunst aus Hamburg hat sich über diese Frage schon oft Gedanken gemacht. Für sie spielen mehrere Aspekte des Berufes als Musiker*in eine Rolle:
"Dieser ständige Erfolgsdruck ist immer und überall da. Du bist ständig damit konfrontiert, dass es immer jemanden gibt, der besser und erfolgreicher ist als du. (…) Ich glaube, dass es eben beides ist: Ich glaube, Menschen werden Musiker, weil sie Depression haben oder depressive Episoden haben und dafür eine Ausdrucksform suchen, ich glaube aber auch, dass es umgekehrt so sein kann, dass einen der Alltag als Musiker so belastet, dass man krank wird davon." - Marie-Luise Gunst
 
Marie hat sich mit einem ganzen Album Depression Unplugged ihre Erfahrungen mit der Krankheit von der Seele geschrieben und versucht damit auch, anderen Betroffenen Mut zu machen. Sie wünscht sich noch mehr Anlaufstellen für betroffene Musikerkolleg*innen - und die Musikindustrie muss Verantwortung übernehmen.

Popambulanz Berlin

Ein Pilotprojekt aus der Wissenschaft bzw. der Medizin ist die Popambulanz, eingerichtet von der Hochschule der populären Künste und der Charité in Berlin. Sie soll nicht nur eine Anlaufstelle für Popmusiker*innen sein, sondern auch Anknüpfungspunkte für weitere Forschung im Bereich Popmusik und Mental Health schaffen. Bei der Popambulanz können Betroffene sich Infos holen, ein erstes Beratungsgespräch machen und etwa zur Therapie in die Charité weiterverwiesen werden. Professor Richard von Georgi ist Psychologe, lehrt an der Hochschule und betreut das Projekt Popambulanz. Auch er ist der Meinung, mit der simplen Feststellung, dass Musiker*innen einfach anfälliger für psychische Erkrankungen sind, macht es sich die Musikindustrie etwas zu leicht:
"Es sind sozusagen alle am Limit, Künstler wie Booker wie sonst wer - es betrifft also nicht nur die Musiker. Und die Industrie als solches, also die Firmen, die letztlich damit Geld verdienen, kümmert das im Moment noch herzlich wenig. Finde ich etwas irritierend, weil es ja langfristig auch aufs Geld geht, auch für die Leute, die damit Geld machen - die anscheinend noch nicht verstanden haben, wenn es hier eine gute Work Life Balance gibt, dass langfristig (…) alle viel länger was von der Musik haben." - Prof. Richard von Georgi, Popambulanz

Songs über psychische Erkrankungen

Gerade haben die Jungs von den Leoniden aus Kiel mit dem Song "Blue Hour" einen sehr persönlichen Einblick in die Mental Health Issues von Sänger Jakob geteilt. Hier liest du die ganze Geschichte.

Auch egoMusikerin AVEC aus Österreich hat uns mit einem sehr persönlichen Song berührt, in dem sie ihre Depression metaphorisch als Ehepartnerin darstellt: "My Wife The Depression".



Wichtig: Auch wenn diese Songs mutige Beiträge zu einer öffentlicheren Diskussion um Mental Health sind, können sie auch für die Musiker*innen selbst keine Therapie ersetzen. Wie Jakob von den Leoniden in einem Instagram-Post erklärt, schaffte er es nur mit der Hilfe von seinen Liebsten, sich in Behandlung zu begeben und die tiefste Phase der Depression zu überwinden. Auch AVEC erklärt in einem Interview zum Song "MWTD", dass sie sich seit sechs Jahren in Therapie befindet.

Die Gute Nachricht: geredet wird schon jetzt mehr über Mental Health – auch bei Labels und Veranstalter*innen. Und Projekte wie die Popambulanz könnten neben anderen Therapiemöglichkeiten ein Vorbild für weitere Hilfsprogramme für Musiker*innen werden.


Traurige Nachrichten von Todesfällen unter Musiker*innen brachten das Thema auf die Agenda

Meldungen vom Selbstmord des Frightened Rabbit-Sängers Scott Hutchison im Mai 2018 und der von Keith Flint von The Prodigy im März 2019 haben zuletzt hohe Wellen geschlagen und dafür gesorgt, dass psychische Krankheiten wie Depressionen und Angstzustände endlich breiter diskutiert werden - und das nicht nur unter Musiker*innen.

Neue Hilfsorganisation in Gedenken an Scott Hutchison

Schon im Dezember 2018, wenige Monate nach seinem Tod, haben befreundete Künstler*innen wie Ben Gibbard von Death Cab For Cutie, Aaron Dessner von The National und Julien Baker ein Tribute-Konzert für Scott Hutchison gespielt. Damals wurden alle Erlöse an den Scott Hutchison Fund gespendet.

Als nächsten Schritt hat die Familie von Scott Hutchison eine neue Mental Health Charity Organisation namens Tiny Changes ins Leben gerufen:


Die Organisation möchte vor allem Kinder und junge Leute ansprechen, die mit psychischen Krankheiten wie Depression oder Angstzuständen zu kämpfen haben und Initiativen unterstützen, die umfangreiche Unterstützung für Betroffene und ihre Angehörigen anbieten. Damit schicken sie eine starke Message raus - an alle, die selbst von Mental Health Issues betroffen sind und an alle anderen, die beim Thema immer noch wegschauen.

Auch The Prodigy sendeten eine Botschaft an ihre Fans

Auch die verbliebenen Bandmitglieder von The Prodigy halten es nach dem Selbstmord ihres Sängers Keith Flint, der selbst sein Leben lang an Depressionen gelitten hat, für wichtig, das Thema nicht einfach weg zu schweigen. In einem Instagram-Post ermutigen The Prodigy jede*n, der/die von Depressionen oder anderen psychischen Krankheiten betroffen sein könnte, darüber zu sprechen und Hilfe zu suchen. Dafür hat die Band einige Anlaufstellen in Großbritannien aufgelistet:


Die klare Botschaft von Tiny Changes und The Prodigy: Hol dir Hilfe! Sprich mit anderen über deine Probleme. Leide nicht im Stillen und allein.




Hilfe und Anlaufstellen bei uns

Wenn du selbst betroffen bist oder das Gefühl hast, dass jemand deiner Freund*innen oder Familienmitglieder betroffen ist, dann haben wir hier ein paar deutsche Anlaufstellen zusammengetragen. 
Zum Beispiel findest du auf der Seite der Deutschen Depressionshilfe unter anderem einen Selbsttest und zahlreiche Adressen zum Thema Depression. Außerdem gibt es die Möglichkeit zu einem direkten Erfahrungsaustausch mit Betroffenen und Angehörigen - natürlich auch anonym, wenn man das möchte. Das deutschlandweite Info-Telefon ist unter der Nummer 08003344533 fast rund um die Uhr zu erreichen.

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